Nach diesem manchmal herrlich, manchmal schweißtreibend warmen Frühling kann man schon mal den Eindruck haben, dass der Sommer hinter uns liegt. In Wahrheit aber liegt der längste Tag des Jahres noch vor uns. Und gerade jetzt, in diesen lichten Tagen, wird deutlich, wie nah in der Natur Licht und Schatten zusammengehören. Denn gerade das gleißend helle Sonnenlicht sorgt für deutliche Schatten. Nur da, wo es eine Lichtquelle gibt, kann Schatten entstehen. Und da, wo Schatten ist, ist garantiert auch Licht. Es ist also gerade die perfekte Jahreszeit, um sich mal ein paar Gedanken über Licht und Schatten zu machen. Auch im psychologischen Sinn.
Wenn man so will, ist das eines der Kernthemen einer jeden Therapie, eines jeden Coachings, einer jeden Beratung. Auf die eine oder andere Weise formuliert lautet die Frage fast immer: Wie kann ich mehr Licht in mein Leben bekommen und die Dunkelheit vermeiden oder mindern? Wie kann ich dieses oder jenes Problem vermeiden und mehr von dem wie auch immer vorgestellten Guten erreichen? Sei das Gesundheit, Geld, Kraft, Wachstum oder was auch immer.
In der Not wird da dann schon mal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Das Zauberwort Transformation oder Wandel, was wir Therapeuten so gerne nutzen, ist nicht das erste, an das man denkt, wenn man ein Problem hat. Viel öfter als die positive Absicht hinter den Dingen zu entdecken oder die geheime Botschaft des Schmerzes, wie es manchmal in Ratgebern empfohlen wird, ist der erste Impuls zu sagen: Das tut weh! Das soll weg!
Absolut verständlich. Bei kurzfristigen Angelegenheiten auch durchaus hilfreich – wenn es denn geht.
Aber wie ist das mit unserer Persönlichkeit? Kann man sich da Licht ohne Schatten vorstellen? Führt nicht eher der Versuch, die Schatten zu meiden und das vermeintlich Unerwünschte zu unterdrücken, gerade erst dazu, dass es richtig stark wird?
Licht und Schatten sind miteinander verbunden. Wie ja letztendlich auch Tag und Nacht verbunden sind. Mag es auch noch so schön, sein die langen Tage des Sommers zu genießen – ohne Nacht kommt auch der nicht aus. Und wer sagt, dass die nicht auch schön ist?
Aber zurück zu den Aspekten der Persönlichkeit. Was bedeutet in diesem Zusammenhang: „Schatten“.
In der Nachfolge zu Carl Gustav Jung ist dazu einiges zusammengetragen worden. Im Wesentlichen aber geht es beim psychologischen Schatten um verschiedene Aspekte des Verborgenen oder, wie man in der Hypnotherapie sagen würde, des Unbewussten. Wenn man diesem Bild folgt, gibt es verschiedene Arten des Schattens (Unbewussten).
Auf der einen Seite sind da die Potenziale und Möglichkeiten, die noch nicht voll entwickelt sind und sich noch nicht im Sonnenlicht der Aufmerksamkeit gezeigt haben. Möglichkeiten, die momentan noch verborgen sind, aber schon auf den großen Auftritt warten. Man könnte diese Art Schatten, den „hellen Schatten“ nennen. Der braucht Aufmerksamkeit und noch eine wenig Zeit, bis er sich entwickeln kann. Er ist aber meist ein noch etwas unbekannter aber gern gesehener Gast.
Unangenehmer aber spannender ist der andere, der „dunkle Schatten“. Das sind die Eigenschaften, die wir zu vermeiden, zu zensieren oder zu unterdrücken versuchen. Die Teile, über die wir sagen: „So bin ich doch gar nicht!“ Sie sind so peinlich oder unangenehm, dass wir die Konsequenzen fürchten, wenn wir sie zeigen. Und so vermeiden wir sie, verstecken sie. Lassen Sie im Dunklen. Das geschieht manchmal bewusst, oft aber, wie der Name „Schatten“ schon andeutet, im Verborgenen.
Aber wieso sind wir nicht einfach die, die wir gerne sein wollen?
Wenn wir von Kindern zu erwachsenen Menschen heranwachsen, ist der Weg meist nicht ganz ungebrochen. Da wächst unsere innere Natur zu einem selbstbewussten, einzigartigen Menschen heran – einerseits. Andererseits aber sorgen unser Umfeld, Familie, Freunde und wichtige Bezugspersonen dafür, dass wir lernen zu werden wie wir sein sollten – statt zu sein, wer wir sind.
Wir lernen, dass Teile unserer Persönlichkeit so nicht geliebt werden. So lernen wir, Teile von uns abzuspalten, zu verstecken oder zu unterdrücken. Und da sie ja noch da sind, nicht verschwunden, nur verborgen, manchmal sogar vor unseren eigenen Augen, projizieren wir sie nach außen und sehen bei anderen das verstärkt, was wir bei uns selber nicht mögen. Oder: Wir schlucken es hinunter, muten es unserem Körper zu, indem wir es in die Muskeln hineinspannen oder es buchstäblich in uns hineinfressen.
Neugierig geworden, in dieser warmen Zeit mal ein schattiges Plätzchen aufzusuchen und über den eigenen Schatten nachzudenken? Dann habe ich noch zwei erste Anregungen für Sie, die helle und auch die dunkle Seite des Schattens ein wenig ins Aug zu fassen. Schauen Sie bei den Menschen in Ihrer Umgebung genau hin:
- Was lieben und bewundern Sie bei anderen am meisten?
- Was bringt Sie bei anderen am ehesten auf die Palme?
Das ist oft ein gutes Indiz dafür, wo sich Ihr eigener Schatten verborgen hat. Lassen Sie mich gerne wissen, wohin Sie ihre kleine Schattenreise dann geführt hat.